"Kulturaustausch"
28. Oktober 2016 | Jinwook Jung
»Reverse«
2016
für 13 Musiker
«Arirang» ist ein sehr altes koreanisches Volkslied. Und es ist das bekannteste koreanische Volkslied. Es wird sogar bei Fußballspielen als Ersatz für die koreanische Nationalhymne verwendet. UNESCO zählt das Lied zum kulturellen Erbe der Menschheit. Was aber die Menschheit tatsächlich mit dem Lied macht, ist mindestens fragwürdig.
Ich komme aus Korea und ich lebe in Europa. Ich beobachte. Ich frage mich: wie viel Einfluss hat die asiatische Kultur auf die europäische Kultur im Vergleich mit dem Einfluss, den die europäische auf die asiatische Kultur hat? Es gibt den Begriff „Kulturaustausch“. Das klingt erstmal gut. Aber findet ein Austausch tatsächlich statt?
«Arirang» ist ein einstimmiges Lied. Die Anzahl von Stimmen, die dieses einstimmige Lied interpretieren möchten, ist immens. Die globale Gesellschaft differenziert sich und grenzt sich gleichzeitig ab. Es gibt alle möglichen Versionen von dem Lied, in allen denkbaren Musikstilrichtungen: von K-Pop bis Pseudo-Mahler. Auch in der Neuen Musik findet das Lied eine breite Verwendung, es wird zitiert und bearbeitet, gebraucht und missbraucht: meistens wird es als ein sentimental-patriotisches Schmuckstück behandelt. Das merkwürdige daran ist, dass niemand mehr erahnt, wie das Lied im Original klingen soll: es gibt nur Interpretationen, Bearbeitungen und „Coverversionen“. Und das ist die negative Seite der Globalisierung. Im Grunde genommen handelt es sich um eine Kultur des Vergessens.
Im Stück «Reverse» war mein Ziel genau das Problem zu thematisieren: das Prinzip der (falschen) (Um)interpretation, des Übertreibens, des Überflusses. Das Stück besteht aus 13 Abschnitten. Darunter 11 „Coverversionen“ von «Arirang» in unterschiedlichen Musikrichtungen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts für das kulturelle Import/Export-Verfahren maßgeblich waren: Walzer (1910), Ragtime (1920), Boogie-Woogie (1930), Swing (1940), Bossa Nova (1950), Rock ‘n‘ Roll (1960), Disco (1970), New Age (1980), Techno (1990), Pop Funk (2000), EDM (Electronic Dance Music, 2010). Im Stück kommen die Abschnitte nicht in dieser chronologischen Reihenfolge vor, sondern verschachtelt, so dass sich die Zeitintervalle zwischen den musikalischen Epochen verringern: [2010–1910]–[2000–1920]–[1990–1930]–[1980–1940]–[1970–1950]–[1960]. Diese Formstruktur wird mit zwei weiteren Abschnitten ergänzt: mit der allerletzten „Coverversion“, in der das Prinzip des Übertreibens auf die Spitze getrieben wird: das Originallied wird in dem Abschnitt am deutlichsten erkennbar, aber die Instrumentation, die Harmonik und die Dynamik werden ins Absurde geführt. Und es wird wiederholt, mehrfach: ein Hinweis auf die Absurdität der permanenten, sich wiederholenden Uminterpretationen des Liedes jetzt auf eine Partiturseite reduziert. Das Prinzip der steigenden Erkennbarkeit des Liedes gekoppelt mit der zunehmenden Absurdität der Materialbehandlung liegt auch dem Titel des Stückes zu Grunde. Auch auf der klanglichen Ebene spiegelt sich das Verfahren wider: eine wichtige Rolle spielen im Stück umgekehrte Gestalten: so wird beispielsweise der typische Tam-Tam-Klang kompositorisch umgedreht: zuerst kommt der Ausklang und dann der Schlag. Der allerletzte Formteil des Stückes bezieht sich nur indirekt auf den Rest: ein Fremdkörper, ein Gegengewicht, ein Fragezeichen.
In unserer Welt passiert vieles. Man kann es gut, schlecht oder normal finden. Oft muss man es akzeptieren, man darf es aber nicht ignorieren. Durch das Ignorieren werden wir betäubt. Uns fehlt immer noch das eigentliche Interesse für einander, nicht nur auf der globalen Ebene, zwischen den Nationen, Kontinenten und Kulturen, sondern fehlt uns oft das Interesse für unsere Mitmenschen. Und Kunst ist vielleicht das einzige Terrain, in dem man es sehr deutlich machen kann.
Jinwook Jung